Debatte über die Ukraine-Krise „Antirussisch bis ins Mark“
Der amerikanische „Council on Foreign Relations“, eine mächtige Denkfabrik, macht den Westen für die Eskalation in der Ukraine verantwortlich und sorgt in den USA für Aufsehen. Die Thesen.
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Im Zentralorgan der Organisation, dem renommierten Magazin „Foreign Affairs“, widmet sich eine 13-seitige Analyse dem Thema. Die Überschrift könnte kaum plakativer formuliert sein: „Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault“. Warum die Ukraine-Krise der Fehler des Westens ist. Der Politikwissenschaftler Professor John J. Mearsheimer von der University of Chicago liefert die Abrechnung mit dem Westen.
Ein tragischer Fehler
Der „Affront“, so Mearsheimer, sei ab Mitte der 90er von der Clinton-Regierung ausgegangen, die die Erweiterung der Nato vorantrieb. In der in den USA geführten Debatte seien es vor allem die Liberalen gewesen, die die Expansion forderten. Realpolitisch orientierte Gegner, die auf legitime russische Sicherheitsinteressen verwiesen, konnten sich nicht durchsetzen.
Mearsheimer zitiert unter anderem den berühmten US-Diplomaten George F. Kennan, der von einem „tragischen Fehler“ gesprochen habe. „Es gab keinen Grund für diese Erweiterung. Niemand hat irgendjemanden bedroht.“
Trotz russischer Proteste wurden 1999 Tschechien, Ungarn und Polen in das Militärbündnis aufgenommen, 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. 2008 brachten die USA mit Georgien und der Ukraine erstmals zwei große Länder ins Gespräch, die eine direkte Grenze mit Russland teilen. Vor allem Deutschland und Frankreichs Bedenken verhinderten eine unmittelbare Aufnahme. Der Wille dazu wurde dennoch erklärt.
„Wie würden die USA reagieren?“
Dabei gehöre es, so Mearsheimer, zum „kleinen 1x1 der Geopolitik“, dass Großmächte sensibel seien, wenn es um potenzielle Bedrohungen an ihrer Grenze gehe. Die USA würden es ebenfalls nicht tolerieren, dass ferne Mächte ihr Militär in der westlichen Hemisphäre platzieren. John Mearsheimer: „Man stelle sich den Aufruhr in Washington vor, wenn China eine eindrucksvolle militärische Allianz aufbauen und Kanada und Mexiko als Mitglieder gewinnen wollen würde.“
Genau dies sei aber die Situation, der sich Russland ausgesetzt sehe. Die USA hätten zudem Milliarden in prowestliche Organisationen der Ukraine gepumpt. Als der ehemalige Präsident Viktor Janukowitsch sich trotzdem gen Russland orientierte, habe Washington den „Putsch“ unterstützt. Das volle Ausmaß der Einflussnahme sei noch nicht ans Licht gekommen, jedoch habe die USA den „Regime Change“ zumindest gedeckt.
Die ukrainische Übergangsregierung sei „antirussisch bis ins Mark“, attestiert Mearsheimer. Einige der ersten Mitglieder könnten sogar durchaus als „Neofaschisten“ bezeichnet werden.
Putin: erstklassiger Stratege, aber kein moderner Hitler
Und Putin? Der weise „ohne Zweifel autokratische Tendenzen“ auf, sei jedoch nicht der irrationale Irre, als der er von westlichen Offiziellen häufig dargestellt werde, sondern ein „erstklassiger Stratege, der von jedem respektiert werden sollte, der ihn auf dem Feld der Außenpolitik herausfordert“. Ein moderner Hitler, der seine Nachbarn reihenweise zu überfallen plane, sei der russische Präsident jedenfalls nicht.
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Für eine neutrale Ukraine
Die jetzigen Reaktionen des Westens würden die Krise nur verschärfen. Mearsheimer und andere Mitglieder des Council regen an, einen „fundamental neuen Weg“ zu beschreiten. Dazu gehöre es, die Westintegration der Ukraine zu beenden und das Land vielmehr als „neutralen Puffer zwischen Nato und Russland“ zu sehen.
Ein ökonomischer Rettungsplan solle ausgearbeitet und durch Europäische Union, Internationalen Währungsfonds, Russland und die USA gemeinsam finanziert werden.
Die USA bräuchten Putins Russland als Verbündeten mit Blick auf Länder wie Iran, Syrien und China. Der Westen stehe vor der Entscheidung, seine gegenwärtige Politik fortzusetzen – „ein Szenario, aus dem jede Seite als Verlierer hervorgehen würde“ – oder eine prosperierende, aber neutrale Ukraine zu ermöglichen.
John J. Mearsheimer ist sich sicher: „Mit diesem Ansatz würden alle gewinnen.“
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